Livereview: Dream Theater

23. März 2016, Kongresshaus Zürich
By Roger W.
Das letzte Dream Theater-Konzert in Zürich war eine zwiespältige Angelegenheit. Und auch ein paar Tage später schwanke ich noch zwischen Freudentränen und Skepsis. Soll ich das Gebotene nun in den Himmel loben oder verurteilen? Beide Wege würden dem grossen Werk nicht gerecht werden, welches Dream Theater mit dem neuen Doppel-Konzept-Album «The Astonishing» aufgeführt haben. Versuchen wir also zu differenzieren.

Vorgeschichte

Unser lieber Rockslave durfte zu meinen Erstaunen das neue Dream Theater-Doppel-Album „The Astonishing“ nicht nur bewerten, sondern schlachtete es mit mageren sechs Punkten regelrecht ab. Und das bei einer Band, welche seit «Metropolis Part II» (1999) meiner Meinung nach ausschliesslich 10 Punkte-Alben veröffentlicht hat. Abzüglich des eher schwachen Debüts von 1989 und der EP «Change Of Season» und dem 1997er Album «Falling Into Infinity» komme ich auf zehn Klassiker, was bei mir noch keine Band vorher geschafft hat. Und nun die 6 Punkte von Rockslave! Eine eigene Meinung musste her, denn Dream Theater musizieren für mich seit jeher wie ein offenes Buch, welches ich von der ersten Minute an lesen kann. Ausser beim neusten Werk! Denn nach dem ersten Reinhören musste ich unserem Slave teilweise Recht geben. «The Astonishing» ist schwierig und braucht viel Zeit, sich zu entwickeln. Nach kämpferischen zehn bis fünfzehn Hördurchgängen fing ich allmählich an zu begreifen. Bei jeder anderen Band hätte ich längst aufgegeben, nicht aber so bei Dream Theater. Umso gespannter war ich deshalb auf die Live-Umsetzung. Dream Theater kündeten an, «The Astonishing» in voller zweieinhalbstündiger Länge aufzuführen. Ich hoffte, durch das Konzert noch besser ins Werk rein zu wachsen. Das Ergebnis war wie gesagt zwiespältig.

Konzert
Für die Umsetzung von «The Astonishing» hatten Dream Theater nur spezielle Orte ausgesucht. In Zürich war es das Kongresshaus, welches bestuhlt wurde. Hier bewiesen Dream Theater eine progressive Ader, welche ich bei den Prog Metallern seit einiger Zeit ein wenig vermisste. Im speziellen, unmetallischen Ambiente nahmen also die Zuschauer Platz und warteten gespannt auf die Aufführung. Beim Eingang wurde einem ein Programmheft in die Hände gedrückt, welches das Konzeptwerk in kurzen Worten zusammenfasste. Das Fotografieren und Filmen per Handy wurde dem Publikum strikte untersagt, und das Einhalten kontrolliert und sofort abgemahnt. Nichts sollte den puren Genuss der Musik und der grosszügig inszenierten Videosequenzen stören. Das war einerseits löblich, aber halt nicht so richtig Rock’n’Roll und schon fast schulmeisterlich. Das Konzept erforderte allerdings auch höchste Aufmerksamkeit, wollte man nichts Wichtiges verpassen. Dank geschickt gereihter Sitze war die Sicht auf die Bühne optimal. Dream Theater legten um 20.05 Uhr pünktlich los und liessen die Zuhörer in ihre Geschichte eintauchen. Die Musiker spielten motiviert, aber gewohnt konzentriert und ohne grosse Interaktion mit dem Publikum. Das Album «The Astonishing» wechselt geschickt immer wieder zwischen laut und leise, so dass sich die Ohren nach wuchtigen Sequenzen jeweils erholen konnten. Wirklich hörbare Stimmung kam im Publikum nach längeren Kapiteln und am Ende des ersten Teils und des zweiten Teils auf. Fast schon euphorisch waren die Reaktionen auf das Gitarrensolo von Gitarrist John Petrucci am Ende von Part eins. Die Musik war erhaben und wurde im selben Stil filmisch umgesetzt. Teilweise wurde es aber etwas zu kitschig und der Pathos auf die Spitze getrieben. Zum Glück verzichteten Dream Theater auf eine patriotische USA-Flagge. Diese hätte mit der Geschichte aber auch gar nichts zu tun gehabt. Vielmehr setzten die Amerikaner auf Vollmondbilder, comicartige Figuren und gezeichnetes Feuer.

Dass «The Astonishing» in der Tat ein schwieriges Album ist, war auch an diesem Abend zu spüren. So wurde es mir im ersten Teil spätestens im zweiten Drittel etwas zu langatmig. Die Geschichte wollte irgendwie nicht vorwärts kommen, zumal die gezeigten Videosequenzen zwar stimmig waren, die Geschichte aber nur teilweise besser erklärten als nur auf Tonträger. So verpasste ich im zweiten Teil die Revolution komplett, welche zwischen dem Schwertkampf und der Siegeshymne stattgefunden haben soll. Wie ein Konzeptalbum besser funktioniert, haben Dream Theater bereits selber bewiesen, denn das Konzeptwerk «Metropolis Part II» und die beiden überlangen Lieder «Six Degrees Of Inner Turbulence? und «In The Presence Of Enemies» bieten in kürzerer Spielzeit mehr Epik, Gefühle, Abwechslung und grosse Refrains, als es Dream Theater auf «The Asthonishing» auch nur annähernd zu Stande bringen.

Der grosse Schlussapplaus nach zweieinhalb Stunden Spielzeit und einer viertelstündigen Pause war trotzdem mehr als verdient. Dream Theater hatten Mut bewiesen und eine opulente Show in ungewohntem Ambiente präsentiert. Differenzierte Kritik war nach dem Konzert zwar zu hören, doch die meisten der Zuhörer wirkten positiv erschlagen. Und dass ich in der Nacht darauf von verschiedenen Melodien träumte und diese auch am Morgen noch in meinem Kopf herum schwirrten, zeugt ebenfalls von grosser Qualität. Vielleicht sollte ich mir «The Asthonishing» nochmals zwanzig bis dreissig Mal anhören. Unter dem Strich war das Konzert auf jeden Fall verwirrend, grossartig und zwiespältig zugleich.